KoLBi - Kohärenz in der Lehrer*innenbildung

Fachsystematik und Funktion. Epistemologische Fragen zur Kohärenz von Bildungsprozessen im Spannungsfeld von Bildungsideal und gesellschaftlicher Funktion

apl. Prof. Dr. Michael Städtler

Nachwuchsgruppenleiter der Maßnahmenlinie 'Curriculare Weiterentwicklung'

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Forschungsprojekt

In der klassischen deutschen Bildungsphilosophie (v.a. Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher, Humboldt) wird die Kohärenz von Bildungsprozessen grundsätzlich aus der sachlichen Verknüpfung der Bildungsinhalte heraus verstanden. Diese Verknüpfung ist zunächst in der jeweiligen Fachsystematik ausgeprägt, wird aber darüber hinaus auch als universaler Zusammenhang des Wissens aller Fächer miteinander, als System der Wissenschaften gedacht. Begründet ist dieser Gedanke in der prinzipiell seit Aristoteles gültigen wissenschaftstheoretischen Überzeugung, dass die systematische Einheit von Wissenschaft in der Struktur ihrer Gegenstandsbereiche gründet, und dass einzelne Disziplinen sich an den Grenzen dieser Gegenstandsbereiche voneinander unterscheiden. Diese Unterscheidung setzt aber Vergleichbarkeit verschiedener Wissenschaften und damit einen denkbaren Zusammenhang über Gegenstandsbereichsgrenzen hinweg voraus. Dieser Zusammenhang wird selbst explizit thematisch in der wissenschaftstheoretischen Reflexion der Philosophie.

In der klassischen deutschen Bildungsphilosophie ist dieser systematische Zusammenhang des Wissens ein Kriterium für seine Einteilung und Anordnung für den Unterricht: Wissenschaftliche Probleme werden für Lernende verständlich im Kontrast zu fachlichen Zusammenhängen, und Problemlösungen werden verstanden, wenn sie aus ihren Elementen und in Bezug auf Zusammenhänge erarbeitet und erklärt werden. Das Lernen, vor allem das Auswendiglernen, von unzusammenhängenden Teilinhalten wird bereits vor 250 Jahren als ungeeignete Unterrichtsmethode verworfen; bereits Kant kennt den Begriff des ‚Bulimielernens‘, freilich unter anderem Namen. Demgegenüber wird das selbsttätige Lernen anhand fachsystematisch aufgebauter Unterrichtsmaterialien als adäquate Methode empfohlen. Das Ziel dieses Unterrichts ist die universale Bildung der menschlichen Persönlichkeit; es geht also nicht allein um Wissenserwerb, sondern zugleich um die Übung und Entfaltung von intellektuellen, sinnlich-motorischen sowie umfassenden sozialen Fähigkeiten. Emotionale Erziehungsanteile werden explizit wenig reflektiert, können aber am ehesten aus den Arbeiten Fichtes extrapoliert werden.

Aber es zeichnet sich in der klassischen Bildungsphilosophie ebenso bereits ein anderes Kriterium der Bildungsorganisation ab, nämlich die sozialen, vor allem administrativen und ökonomischen Funktionen der Absolventen: Sie sollen für ihr Amt im Staat oder für bestimmte Berufe ausgebildet werden, generell für ihre möglichst reibungsarme Integration in bestehende Funktionszusammenhänge. Vor allem der Schule kommt daher die Aufgabe zu, die Menschen für alle denkbaren Zwecke tauglich zu machen. Der auf Comenius zurückweisende Begriff der Allgemeinheit von Bildung, der dem klassischen Bildungsbegriff zugrundeliegt, wird äquivok gebraucht: Einerseits soll allgemeine Bildung alle Fähigkeiten aller Menschen möglichst in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander (also kohärent) zur Entfaltung kommen lassen, um ihrer Menschlichkeit willen; andererseits soll die allgemeine Bildung die Menschen universell funktional machen, um ihrer gesellschaftlichen Existenz willen. In der einen Hinsicht sind sie für die Bildung Zwecke an sich selbst, in der anderen Hinsicht sind sie Mittel zu anderen Zwecken.

Der Bildungsbegriff, in dem die wissenschaftliche Form des Wissens und die institutionelle Gestalt seiner Vermittlung zusammenhängen, gerät damit in einen Widerspruch, der die Dynamik der folgenden Bildungsgeschichte bestimmt: Die wechselnden gesellschaftlichen Anforderungen lassen einerseits Bildungsinhalte als flexibel gestaltbar, Bildung als bedarfsgerecht reformierbar erscheinen; an der wissenschaftlichen Form des Wissens, das den Bildungsinhalten zugrundeliegt, stoßen aber andererseits Reformbemühungen immer wieder an Grenzen. Parallel hierzu wird einerseits die menschliche Persönlichkeit durch die Instrumentalisierung von Bildungsprozessen flexibilisiert; andererseits widersteht die Spontaneität des Subjekts dessen Flexibilisierung in unterschiedlicher Weise: Scheitern an oder Verweigern von Bildung, autodidaktisches Gegensteuern oder auch psychische Krankheit. Die Verlaufsform des Widerspruchs ist die Ambivalenz, in der beide Seiten einer gemeinsamen Form folgen: Die Systematik des Faches wird anhand des ambivalenten Bildungszwecks – nicht: Entfaltung oder Funktionalisierung des Subjekts, sondern: Entfaltung des Subjekts nur durch seine Funktionalisierung – in formal und inhaltlich bestimmte Bildungsprogramme ausformuliert, aus deren Erfolgen oder Misserfolgen sich anschließend Methoden und deren Reformen begründen lassen.

Es soll in dem Projekt herausgearbeitet werden, wie bereits die Autoren der klassischen deutschen Philosophie das Verhältnis von Fachsystematik und gesellschaftlicher Funktion des Wissens bestimmen und welche Konsequenzen für die Kohärenz von Bildungsprozessen sie daraus ziehen. Im Mittelpunkt wird die Bildungsphilosophie Fichtes stehen, die am umfangreichsten und auch am tiefsten ausgearbeitet ist und die im Kontext der anderen Autoren konturiert werden soll. Vor diesem Hintergrund soll die Frage nach der Möglichkeit und Bedeutung eines allgemeinen oder systematischen Bildungsanspruchs in der Gegenwart reflektiert werden, wie sie in der kritischen Bildungstheorie in der Tradition von Heydorn und Adorno neu gestellt worden ist: Beide gehen nicht mehr von einem zeitlosen, idealen Bildungsbegriff aus, wohl aber von einem für alle Menschen substantiellen Anspruch auf Entfaltung ihrer Potentiale, jedoch im Bewusstsein inadäquater historischer Bedingungen.

Auf dieser Grundlage geht es darum, die Formen und Ansprüche heutiger Studiengänge im Spannungsfeld von Bildungsideal und gesellschaftlicher Funktion angemessen zu verstehen. Insbesondere soll die Kohärenz der Curricula, vor allem hinsichtlich der Professionalisierung für das Lehramt, besser verstanden und durch gezielte curriculare Entwicklungen ausgebaut werden.

 

Lehrkonzept

In meinen Lehrveranstaltungen verfolge ich zwei Dimensionen von Kohärenz im Lehramtsstudium.

Erstens bieten sie die Gelegenheit, das Verhältnis von fachwissenschaftlichen Gehalten und professionalisierungsspezifischen Problemen zu reflektieren. Dies geschieht zum einen durch die unterrichtsbezogene Thematisierung von Bildungstheorie, zum anderen durch ihre Konfrontation mit Texten zur Didaktik und Pädagogik. Erprobt wird dies beispielsweise an der Bedeutung der Meinung in Wissenschaft und Unterricht: In welcher Form, an welchen Stellen treten Meinungen im Unterricht auf? Was ist überhaupt theoretisch gesehen eine Meinung? Was folgt hieraus für den Umgang mit Meinungen im Unterrichtsgeschehen? Welche Stellung haben sie im Bildungsprozess und an welcher Stelle werden sie überstrapaziert? Wie können sie didaktisch einbezogen werden und wie sind sie pädagogisch zu behandeln? Die didaktische und pädagogische Dimension wird auf der Grundlage eines theoretischen Problemverständnisses erschlossen. Analog kann dies am Themenbereich Zwang und Gewalt durchgeführt werden. Diese Themen sind für fast alle Fächer und deshalb für alle Lehramtsstudiengänge in unterschiedlicher Weise relevant. Außerdem bringen die meisten Studentinnen und Studenten ein gesellschaftlich normiertes Vorverständnis dieser Themenbereiche mit. Gerade deshalb eignen sie sich besonders dafür, durch kontraintuitive theoretische Beiträge Irritationen des scheinbar Selbstverständlichen zu erzeugen und zum eigenen Nachdenken anzuregen, das von vornherein im Zusammenhang von Fachwissenschaft, Didaktik und Bildungstheorie entwickelt wird.

Zweitens soll das Verständnis für den systematischen Zusammenhang wissenschaftlichen Denkens angeregt werden. Dafür eignen sich wissenschaftstheoretische Texte, die zwar aus der Philosophie stammen, aber eine Vielzahl verschiedener Bezugswissenschaften thematisieren. Anhand von Texten zur systematischen Form des Aufbaus von Wissenschaften (Kant, Fichte, Hegel, Schelling, Schleiermacher, Humboldt) oder zu Fragen der Allgemeinbildung (Adorno, Heydorn, Koneffke) soll in Bezug auf eigene Lern- oder auch Lehrerfahrungen erörtert werden, in welcher Weise durch die innere Struktur eines Faches für dessen einzelne Inhalte Sinn erzeugt wird und wo die Grenzen dieser Systematisierung liegen. So soll ein Verständnis dafür angeregt werden, dass die vereinzelten Inhaltsblöcke des eigenen modularisierten Studiengangs mehr miteinander zu tun haben als das Modulhandbuch erahnen lässt. Idealerweise können auf diese Weise Defizite im eigenen Studienverlauf schneller erkannt und überbrückt werden. Es soll dazu ermutigt werden, vorgegebene Inhalte oder Teilstudiengänge verstärkt in ihren Zusammenhängen und ihrer wechselseitigen funktionalen Verbindung wahrzunehmen und Veranstaltungen auch diesen Zusammenhängen entsprechend auszuwählen. Zwar kann die Fragmentierung gegenwärtiger Studiengänge so nicht aufgehoben werden, aber es kann angeregt werden, durch Reflexion auf Inkohärenzen quasi eine Kohärenz zweiter Ordnung zu erreichen.

Das hauptsächliche Ziel dieser Lehrformen ist es deshalb, die Reflexion auf Sinn und Stellung als vereinzelt erfahrener Studieninhalte, vor allem didaktischer und bildungswissenschaftlicher Anteile in der Lehrerbildung, von einem konkreten wissenschaftlichen Problem oder Gegenstand ausgehend anzuleiten, um zum einen statt der bloßen Aneignung aufgesetzter Methoden zu einem Verständnis der immanenten Methodik eines Faches zu gelangen und zum anderen auch Fachinhalte, die nicht unmittelbar relevant für die Unterrichtspraxis sind, in ihrer systematischen Funktion für das Fachverständnis besser einzuschätzen.

Die Veranstaltungen sind im Übrigen so aufgebaut, dass die Gegenstände in ihren fachlichen Zusammenhängen einführend vorgestellt werden und anhand auftretender Inkohärenzen problematisiert werden. Das Denken in Zusammenhängen kann am besten geübt werden durch das konsequente Durchdenken von Zusammenhängen und sich Abarbeiten an Inkohärenzen. Dies erstreckt sich bis in die Begleitung schriftlicher Prüfungsleistungen: Die Freiheit, an unerwarteten Inkohärenzen zu scheitern, muss den Studierenden ebenso geboten werden wie die Möglichkeit, diese Inkohärenzen im Austausch zu reflektieren.

 

Aktuelle Lehrveranstaltung:

Die (eigene) Meinung in Wissenschaft und Unterricht

Die Frage, ob die eigene Meinung eingebracht werden dürfe, wird von Studierenden sehr häufig gestellt, vor allem beim Schreiben von Hausarbeiten. Auch im schulischen Kontext und in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen kommt dem Formulieren von Meinungen seit einiger Zeit immer größere Bedeutung zu, sowohl in Bezug auf Schüler- als auch in Bezug auf Lehrermeinungen. Nicht zuletzt ist die Freiheit der Meinungsäußerung ein zentrales Grundrecht.

In dem Seminar soll geklärt werden, was überhaupt eine Meinung ist (im Unterschied zu Glauben oder Wissen) und welche Funktionen Meinungen in Gesellschaft und Wissenschaft haben oder haben können. Leitend soll die Frage nach einem angemessenen Umgang mit Meinungen in der schulischen und in der wissenschaftlichen Bildung sein.

Dafür sollen Texte von Kant, Hegel und Adorno gelesen und zu Bestimmungen der Urteils- und Meinungsbildung im Unterricht in Beziehung gesetzt werden.

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